Die Rule of Reason ist eine amerikanische Antitrust-Doktrin. Ihr Kern ist eine Abwägung zwischen möglichen positiven und negativen Auswirkungen einer wettbewerbsbeschränkenden Maßnahme. Überwiegen deren Vorteile, so ist sie nicht zu untersagen. Es kommt also nicht zu einem per-se-Verbot, sondern einer Regel bzw. einem Vorrang der Vernunft.
Im amerikanischen Kartellrecht wurde das Verbot wettbewerbsbeschränkender Maßnahmen im Sherman-Act[1] zunächst noch sehr extensiv ausgelegt: In U.S. v. Trans-Missouri Freight Association[2] postulierte der Supreme Court, dass sämtliche Wettbewerbsabsprachen verboten seien und das ohne jeden Beurteilungsspielraum.[3] Diese – mit nur knapper Mehrheit ergangene – Entscheidung hatte jedoch keinen Bestand. Im grundlegenden Standard Oil Co. of New Jersey v. U.S-Urteil[4] stellte das Gericht klar, dass sehr wohl ein Beurteilungsspielraum bestehe:[5] Schlichtweg jede Wettbewerbsabsprache zu verbieten, sei undurchführbar und letztlich kontraproduktiv. Wettbewerbsbeschränkungen können nämlich auch notwendig sein, um – an sich kartellrechtsneutrale – Verträge überhaupt umsetzbar zu machen (z. B. Wettbewerbsverbote). Dieser Grundsatz ist bis heute ständige Rechtsprechung in den Vereinigten Staaten. Ein per-se-Verbot ist nur noch für „hard core“-Beschränkungen vorgesehen, also Preisabsprachen oder Marktaufteilungen.[6]
Ob es die Rule of Reason auch im europäischen Wettbewerbsrecht gibt, ist nicht abschließend geklärt. Eine solche wäre dann in weiteren, „ungeschriebenen“, Ausnahmen jenseits der „geschriebenen“ Ausnahmen vom Kartellverbot (Art. 101 Abs. 1 AEUV) in den Art. 101 Abs. 3 und 106 Abs. 2 AEUV zu sehen.[7] Während sich das Gericht erster Instanz und die Kommission gegen eine Rule of Reason ausgesprochen haben, da diese mit der Systematik von Art. 81 EG (jetzt: Art. 101 AEUV) nicht vereinbar sei,[8] scheint der EuGH zumindest in Wouters u. a./Algemene Raad van de Nederlandse Orde van Advocaten[9] die Rule of Reason angewandt zu haben.[10]
Auch das deutsche Recht kennt eine Art Rule of Reason: Die sogenannte Immanenztheorie. Es handelt sich bei diesen Fällen um ungeschriebene Ausnahmen von § 1 GWB. Genau wie im europäischen Recht gibt es im deutschen Kartellrecht mit § 2 GWB ein System der Legalausnahmen. Eine Tatbestandrestriktion wäre also – im Gegensatz zum amerikanischen Recht – an sich nicht „notwendig“. Trotzdem ist die Unterscheidung zwischen Tatbestandsrestriktion und Legalausnahme auch in der Rechtsprechung des BGH anerkannt.[11] Wenn eine Absprache schon nicht tatbestandsmäßig ist, so hat dies für die Beteiligten Unternehmen vor allem den Vorteil, dass es nicht mehr darauf ankommt, ob die GVOen nach § 2 Abs. 2 GWB greifen. Vom Tatbestand des § 1 GWB werden in erster Linie die für kartellrechtsneutrale Verträge notwendigen Nebenabreden nicht erfasst.